Gefährdet KI die indische Softwareindustrie? Der schleichende Wandel eines Milliardengeschäfts

Die indische Softwareindustrie steht vor bedeutenden Veränderungen. Während Künstliche Intelligenz verschiedene Arbeitsbereiche automatisiert, stellt sich die Frage: Wie wird sich die traditionell starke indische IT-Branche an diese neuen Gegebenheiten anpassen? Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen und mögliche Zukunftsszenarien.

1. Die aktuelle Situation: Zahlen und Fakten

Die indische Software- und IT-Branche beschäftigt etwa 5,4 Millionen Personen und erwirtschaftete laut der National Association of Software and Service Companies (Nasscom) im Finanzjahr 2023/2024 Erträge von etwa 254 Milliarden US-Dollar. Mit rund 67 Prozent des Weltmarktes ist Indien das global größte Outsourcing-Ziel für IT-Dienstleistungen.

Traditionell basiert ein großer Teil dieser Erfolgsgeschichte auf:

  • Standardisierten Programmieraufgaben und Code-Wartung
  • Systematischen Softwaretests und Qualitätssicherung
  • Technischem Support und Dokumentationsprozessen

Diese Bereiche zeichnen sich durch wiederholbare Prozesse aus, die sich prinzipiell für Automatisierung eignen. KI-Tools wie GitHub Copilot oder verschiedene Testautomatisierungs-Plattformen zeigen bereits heute, wie solche Aufgaben technisch unterstützt werden können.

2. Erste Anzeichen des Wandels

Die Branche verzeichnet bereits strukturelle Veränderungen. Tata Consultancy Services (TCS), das größte IT-Dienstleistungsunternehmen des Landes, kündigte an, über 12.000 Stellen in der mittleren und oberen Führungsebene zu streichen. Branchenberichten zufolge verloren im vergangenen Jahr schätzungsweise 50.000 Menschen in der Branche ihre Arbeitsplätze.

Ein Bericht der US-Investmentbank Bernstein warnt vor größeren strukturellen Herausforderungen: KI-basierte Lösungen könnten bestimmte Arten von Outsourcing-Tätigkeiten kostengünstiger und effizienter erledigen als menschliche Arbeitskräfte. Dies betreffe vor allem standardisierte Aufgaben in den unteren bis mittleren Qualifikationsstufen.

Für Unternehmen in Deutschland, die bisher IT-Services nach Indien ausgelagert haben, ergeben sich dadurch neue strategische Überlegungen bezüglich ihrer Outsourcing-Ansätze.

3. Anpassungsstrategien und neue Schwerpunkte

Viele indische IT-Unternehmen haben bereits begonnen, ihre Geschäftsmodelle anzupassen. Die Branche verzeichnete in den vergangenen zwölf Monaten einen Zuwachs von mehr als 15 Prozent bei Stellen im Bereich Künstliche Intelligenz und Machine Learning.

Neue Tätigkeitsfelder entstehen:

  • Entwicklung und Training von KI-Modellen
  • Integration von KI-Systemen in bestehende Unternehmensarchitekturen
  • Spezialisierte Beratung für branchenspezifische KI-Anwendungen
  • Governance und Ethik-Richtlinien für KI-Implementierungen

Der NASSCOM-BCG-Bericht vom Februar 2024 zeigt, dass bereits 30 Prozent der befragten Unternehmen generative KI-Beratungs- und Modell-Anpassungsdienstleistungen anbieten. Dies deutet auf einen Wandel von reiner Dienstleistungserbringung hin zu beratungsintensiveren Tätigkeiten.

4. Auswirkungen für deutsche Unternehmen

Für Entscheidungsträger in deutschen Unternehmen ergeben sich verschiedene Überlegungen:

Kurzfristige Aspekte:

  • Bewertung bestehender Outsourcing-Verträge hinsichtlich KI-Integration
  • Entwicklung hybrider Ansätze zwischen KI-Tools und menschlicher Expertise
  • Schulung der eigenen Teams in KI-relevanten Technologien

Langfristige Strategien:

  • Fokussierung auf komplexe, beratungsintensive Projekte
  • Berücksichtigung von Nearshoring-Optionen
  • Aufbau von Partnerschaften mit KI-spezialisierten Anbietern

In Deutschland sind laut Bitkom aktuell 149.000 Stellen für IT-Fachkräfte unbesetzt. Dies schafft Raum für neue Kooperationsmodelle, bei denen deutsche Projektleitung mit internationaler Expertise kombiniert wird.

5. Langfristige Entwicklungen

Das Marktforschungsunternehmen Statista schätzt den indischen KI-Markt für 2023 auf 4,1 Milliarden US-Dollar und prognostiziert ein Wachstum auf 13 Milliarden US-Dollar bis 2029. Gleichzeitig weist der Bernstein-Bericht darauf hin, dass Indien derzeit nur 0,2 Prozent aller weltweiten KI-Patente registriert, verglichen mit 61 Prozent aus China und 21 Prozent aus den USA.

Die geopolitischen Entwicklungen der letzten Jahre verstärken zusätzlich den Trend zu regionaler Diversifizierung von IT-Dienstleistungen. Unternehmen suchen verstärkt nach Alternativen, die geografische und politische Risiken reduzieren.

Diese Entwicklungen könnten mittelfristig zu einer stärkeren Regionalisierung von IT-Dienstleistungen führen, wobei Nearshoring und hybride Modelle an Bedeutung gewinnen.


Fazit

Die indische IT-Branche durchläuft einen bedeutsamen Strukturwandel. KI verändert etablierte Geschäftsmodelle, eröffnet aber gleichzeitig neue Möglichkeiten für spezialisierte Dienstleistungen. Unternehmen, die sich frühzeitig an diese Veränderungen anpassen, können neue Marktchancen erschließen.

Die Entwicklung zeigt, dass erfolgreiche IT-Partnerschaften künftig stärker auf Beratungskompetenz, Spezialisierung und strategische Zusammenarbeit setzen werden. Hybride Ansätze, die technologische Innovation mit menschlicher Expertise verbinden, werden dabei eine zentrale Rolle spielen.

Für eine unverbindliche Beratung zu modernen IT-Strategien und deren Umsetzung steht Ihnen DevRiseUp gerne zur Verfügung. Wir unterstützen Sie dabei, die Chancen der digitalen Transformation optimal zu nutzen.

Über den Autor

Jörg Strothmann Als CTO mit über 30 Jahren Berufserfahrung in der Hard- und Softwareentwicklung an verteilten Standorten (Europa und Indien) habe ich viele Erfahrungen gesammelt. Diese möchte ich gerne weitergeben.

Jörg Strothmann